Hermann kommt aus dem Hunsrück. Er ist 68 Jahre alt, trockener Alkoholiker. Er war Finanzbeamter im gehobenen Dienst.
Bevor er zu uns kam, wohnte er alleine in seiner Wohnung, als Beamter wurde er suspendiert. „Physisch und psychisch fühlte ich mich an die Wand geklatscht, einfach ausgedrückt“, sagt Hermann. Er trinkt Wodka, sein Konsum steigert sich auf drei Flaschen pro Tag.
Er hatte zwei Ehen und zwei Scheidungen hinter sich. Aus der ersten Ehe hat er zwei Söhne und eine Tochter. Seine Frau ist 17 Jahre alt, als sie schwanger wird, Hermann 19. Hermann hatte sich gerade für zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. In den letzten Jahren sprechen Hermann und seine Frau kaum noch miteinander und die Ehe wird 1987 einvernehmlich geschieden.
Einige Jahre später heiratet Hermann erneut. Zwei Söhne kommen zur Welt. Als Spiegeltrinker hält er seinen Alkoholpegel auf einem gleichbleibenden Niveau, nur so ist er „normal, unauffällig und funktionsfähig“. Neun Jahre hält die zweite Ehe, dann kommt es zur räumlichen Trennung. Die beiden Söhne, sieben und acht Jahre alt, wohnen bei Hermann. Zur Mutter, die in der Nähe wohnt, haben sie guten und engen Kontakt.
Hermann steigt von Bier und Wein auf Schnaps um. Er arbeitet weiterhin als Finanzbeamter. Kontinuierlich trinkt er weiter, die versteckten Flachmänner helfen ihm über den Tag. Im Jahr 2007 verliert er für sieben Monate seinen Führerschein. Das erste Mal wird er offen auf ein mögliches Alkoholproblem angesprochen.
Hermann ist überzeugt, dass er seinen Alkoholkonsum im Griff hat. Er sieht sich nicht als Alkoholiker. Es vergehen zwei weitere Jahre, dann hinterfragen seine nahen Mitarbeiter und Arbeitskollegen sein Trinkverhalten. Hermann streitet alles ab. Mittlerweile trinkt er eine Flasche Wodka am Tag, aber er ist uneinsichtig. Er ist Gesprächen gegenüber nicht zugänglich und überzeugt davon, dass alles in Ordnung ist.
Es folgt ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten. Widerwillig muss Hermann zugeben, zu viel zu trinken: „Aber ich krieg das alleine in den Griff.“ Hermann muss darauf achten, dass ihn beim Trinken niemand sieht: „Fenster auf Kipp, Kaugummi kauen, Flaschen verstecken gehören zum Alltag.“
2011 wird ihm von der Finanzbehörde eine Entgiftung nahegelegt. Die stationäre Entgiftung mit therapeutischer Begleitung dauert 28 Tage. Fünf Monate bleibt er abstinent, dann beginnt er wieder zu trinken, sofort im gleichen Ausmaß wie zuvor. Kollegen und Vorgesetzter sind nun sensibilisiert. Mittlerweile unterlaufen ihm Fehler, Dinge werden versäumt, Termine nicht wahrgenommen.
Der Suchtbeauftragte der Finanzbehörde wird eingeschaltet, man drängt auf eine zweite Kurzzeittherapie. Hermann geht in eine Suchtklinik in Bad Neuenahr. Nach acht Wochen wird er entlassen. Auf der Fahrt nach Hause beginnt er schon im Zug zu trinken.
Im Dienst fällt er schnell auf, seine Arbeit wird kontrolliert, grobe Fehler werden aufgedeckt. Er wird suspendiert.
Ohne Arbeit, mit steigendem Alkoholkonsum, „hause ich in meinen vier Wänden“. Der Suchtbeauftragte der Finanzbehörde kümmert sich weiterhin ein wenig um ihn, versucht ihm zu helfen. Er hilft ihm zum zweiten Mal, einen Platz in der Suchtklinik Bad Neuenahr zu bekommen, kümmert sich um eine weitere Kostenzusage. Nach acht Wochen ist die Therapie beendet, es kommt anschließend zum sofortigen Rückfall.
Der Suchtbeauftrage bringt Fleckenbühl ins Spiel: „Ich lass mich mit 60 Jahren nicht entmündigen“, sagt Hermann. Hermanns Familie schaltet sich ein. Eine Kostenübernahme für eine weitere Therapie wird nicht bewilligt.
Seine Schwester bringt ihn auf den Hof. Am 5. September 2014 sieht er Fleckenbühl als „notwendiges Übel“. Besonders in der Anfangszeit fällt ihm die Kontaktpause zu seinen Söhnen, nun 22 und 21 Jahre alt, schwer. Oft überlegt er abzubrechen.
Mit allem anderen arrangiert er sich gut. In Käserei, Stall und Verwaltung macht er Praktika. Sein fester Arbeitsbereich wird die Verwaltung. Nach der Kontaktpause nimmt er zu seiner Familie – Schwester, Schwager und Kinder – wieder Kontakt auf. Er feiert seinen ersten nüchternen Geburtstag und fährt zu Besuch in sein altes Zuhause. Es wurde „leichter und angenehmer für mich“, sagt er.
Er geht eine neue Beziehung ein, seine Freundin wohnt in der Nähe des Hofes. Nach zwei Jahren bezieht er in unserer Außen-Wohngemeinschaft im Dorf ein nettes Zimmer mit einem anderen Bewohner.
Er ist gut eingebunden in Fleckenbühl, er übernimmt Verantwortung am Arbeitsplatz, bei Gemeinschaftsdiensten, informiert Besuchergruppen über unsere Arbeit. Die Infos machen ihm Spaß, Hermann ist beliebt.
Dann trennt sich seine Freundin von ihm und Hermann fährt zur Tankstelle und kauft Wodka. Er betrinkt sich, sein Verhalten ist auffällig. Er gibt den Rückfall zu, verlässt Hof Fleckenbühl. Einen Neuanfang mit seinen Konsequenzen will er nicht in Kauf nehmen. Die familiären Belange, die es zu regeln gilt, sind nicht aufschiebbar, meint Hermann. Wenn alles geregelt ist, will er in zwei Wochen wieder auf den Hof kommen.
In den nächsten beiden Wochen nach seinem Auszug hat er zwei Rückfälle, einer „massiv“. Er geht in eine Entgiftungsstation, statt der Dauer von zehn Tagen muss er einen Monat dortbleiben. Er bekommt Polyneuropathie. Er kann kaum laufen, kann sich kaum bewegen und nur unter Schmerzen an Krücken gehen. Er schämt sich, versucht eine andere Einrichtung finden.
Er geht eine Woche zu seiner Schwester, die ihn dann am 12. März 2017 wieder auf den Hof bringt. „Ich hätte kein weiteres halbes Jahr überlebt“, sagt Hermann. „Die Wiederaufnahme wurde mir von der Gemeinschaft relativ leicht gemacht.“ Sein Arbeitsplatz wurde nicht das Bootcamp mit seinen hauswirtschaftlichen Arbeiten, das war aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich.
Er wurde Küchenmitarbeiter. „Ich konnte kaum laufen, hatte starke Gleichgewichtsstörungen, zu 30 Prozent waren meine Nerven in den Beinen geschädigt.“ Die Hausküche hatte Arbeit im Sitzen, so half man Hermann über die ersten Tage, Wochen und Monate. Sein Zustand bessert sich, aber erst nach einem Jahr ist er wieder in der Lage Auto zu fahren.
Es gefällt ihm gut in der Küche, aber die Hausleitung braucht ihn als Fahrer für Gemeinschaftsangelegenheiten. So wechselt er 2018 ins Aufnahmehaus. Auf eigenen Wunsch steht Hermann bis heute früh morgens in der Küche und richtet mit anderen das Frühstück für die Bewohner. Lange Zeit belieferte er die verschiedenen Kindergärten mit Mahlzeiten.
Heute macht er unsere Fahrten mit den Kindern zum Kindergarten, macht Arztfahrten und Besorgungsfahrten jeglicher Art. Die Hausleitung ist froh, dass diese Stelle durch ihn besetzt ist.
Nach 44,5 Jahren im öffentlichen Dienst ist er seit dem 1. Januar 2017 Pensionär.
Er fährt gerne Rad, geht spazieren. Seine Hüft-Operation hat er gut überstanden. Fleckenbühl ist offen für individuelle Wohnmöglichkeiten: Hermann konnte eine eigene, schöne, modernisierte Wohnung im Dorf beziehen. Dies vereinfacht die Besuche seiner Familie, besonders die seiner Kinder, die er in ihrem Studium unterstützt. „Ganz entscheidend ist für mich nach wie vor, hier in Fleckenbühl einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen.
„So wie meine Situation jetzt ist, bin ich sehr zufrieden und fühle mich sehr wohl. Ich habe durch den lebendigen Kontakt zur Gemeinschaft und die sinnvolle Tätigkeit für die Gemeinschaft keine Angst vor Einsamkeit im Alter. Ohne Fleckenbühl wäre ich nicht derjenige, der ich jetzt bin: gesund, aktiv, zufrieden.“