Christopher ist 57 Jahre alt und lebt seit dreieinhalb Jahren auf Hof Fleckenbühl. Er stammt aus Liverpool, seine Mutter war Engländerin, sein Vater Ire. Er hat einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Vor wenigen Tagen erst hat Christopher erfahren, dass sein Bruder verstorben ist: „Er hat sich totgetrunken“, sagt Christopher.
Zu seiner Schwester, die in England lebt, hat er ein gutes Verhältnis. „Im Gegensatz zu mir und meinem Bruder war sie eine gute Schülerin und immer brav.”
Vor drei Monaten ist seine Mutter verstorben, sie war Alkoholikerin. Ihr erstes Kind, seinen Bruder, hat sie im Alter von 15 Jahren bekommen, ihr zweites Kind mit 18 Jahren und Christopher kam ein Jahr später zur Welt. Sein Vater war spielsüchtig und ein halbes Jahr nach Christophers Geburt verlässt er die Familie, ohne sich zu verabschieden. Die Mutter zieht mit ihren drei Kindern zu ihrem Bruder, der die kleine Familie bei sich aufnimmt. Sie arbeitet halbtags in einem Süßwarenladen, während der Onkel auf die Kinder aufpasst. Seit frühester Kindheit, erinnert sich Christopher, erleben er und sein Bruder jahrelangen schweren Missbrauch durch seinen Onkel. Die Brüder schweigen.
Christopher ist sechs Jahre alt ist, als seine Mutter einen neuen Lebensgefährten kennenlernt. Bald heiratet sie „den anderen Typen“. Der Stiefvater zieht zu ihnen in die Wohnung und will nicht, dass der Onkel im Haushalt verbleibt und verlangt, dass er auszieht. Die Brüder sind froh.
In die Schule geht Christopher ungern, er ist ein begeisterter Fußballspieler und natürlich ein Fan seines Heimatvereins Liverpool.
Sein Stiefvater arbeitet in einer Möbelfabrik, seine Mutter bleibt zu Hause. Sie beginnt zu trinken und agiert in der Erziehung äußerst gewalttätig. Ihre Gewaltausbrüche, „sie schlug uns wegen Kleinigkeiten mit allem, was ihr in die Hände kam“ betraf nur ihre Söhne. Ein Jahr später missbraucht der Stiefvater die drei Geschwister. Wieder schweigen die Kinder.
Als Christophers Bruder beim Klauen erwischt wird, soll er in einem Heim untergebracht werden. Das wollen die Geschwister auf keinen Fall und sie vertrauen ihrer Mutter den jahrelangen Missbrauch an. Ihre Reaktion ist ein Suizidversuch.
Später verlangt sie, dass Christopher und seine Geschwister die Anschuldigungen zurückziehen, sonst würde sie sterben. „Es könne nicht die Wahrheit sein“, die Kinder sollen sagen, dass sie gelogen haben. Aus Angst um die Mutter stimmen die Kinder dem zu.
Die Brüder schließen sich zusammen und drohen dem Stiefvater ihn umzubringen. Daraufhin beendet er den Missbrauch.
Mit elf Jahren beginnt Christopher Haschisch zu rauchen und Alkohol zu trinken. Sein Bruder ist anderen gegenüber gewalttätig, so beschützt er auf diese Weise schwächere Kinder. Christopher schwänzt immer häufiger die Schule, nimmt Drogen, besonders Amphetamine und Valium, und verkauft sie. Ohne Abschluss verlässt er mit 16 Jahren die Schule.
Er jobbt in einer Kneipe, wird in einen Drogenkrieg verwickelt und ins Koma geschlagen. Christopher schlägt sich mit diversen Gelegenheitsjobs durch, Diebstahl und Drogenverkauf halten ihn über Wasser. Mit 18 Jahren wird er verhaftet und muss ein halbes Jahr ins Gefängnis. Danach geht er nach Jersey. Christopher arbeitet auf Baustellen, im Steinbruch, anschließend managt er einen Pub. Drogen und Alkohol sind seine ständigen Begleiter: „Konsum und Verkauf bestimmten mein Leben.” Bald wird er nochmals inhaftiert und muss einige Monate ins Gefängnis. Danach lernt seine erste große Liebe kennen, Christopher hat genügend Geld „erwirtschaftet“, so können sie auf „Weltenbummel“ gehen. Sie
durchreisen in den nächsten Jahren gemeinsam Europa. In der Türkei bleiben sie „hängen“ und eröffnen eine Bar am Strand. Ein Jahr später reist seine Freundin nach Jersey, um ihre Mutter zu besuchen und kommt nicht mehr zu ihm zurück.
Im Sommer leitet er den Barbetrieb weiter, in den Wintermonaten überführt er mit einem Freund Segelschiffe und Motorjachten auf dem Mittelmeer.
Es ist für ihn ein gutes, abenteuerliches und freies Leben. Allerdings werden seine „Geschäfte“ in der Türkei immer heikler und er beschließt, nach Deutschland zu gehen.
Mittlerweile nimmt er auch harte Drogen, hat sein Leben nicht mehr im Griff. Eine Überdosis führt zu einer drogeninduzierten Psychose. Im Krankenhaus besucht ihn ein Sozialarbeiter der Caritas. Er organisiert für Christopher einen Therapieplatz, aber die Krankenkasse übernimmt mangels Versicherung und ohne gültige Meldeadresse keine Kosten.
Der Sozialarbeiter erinnert sich an Fleckenbühl, viel weiß er nicht, aber „da gibt es keine Drogen und man kann auf dem Bauernhof arbeiten“.
Im September 1996 kommt Christopher das erste Mal nach Fleckenbühl. Nach einigen Wochen übernimmt er die Aufgabe, neue Bewohner bei der Arbeit anzuleiten und er ist ihr Ansprechpartner.
Kurz nach seinem ersten nüchternen Geburtstag verlässt er den Hof. „Ich fühlte mich nach einem drogenfreien Jahr wie Supermann, in den letzten 20 Jahren war ich nicht länger als drei Tage am Stück ohne Drogen“, sagt Christopher.
Ein Freund, den er aus der Türkei kennt, wohnt in der Nähe von Frankfurt. Christopher zieht vorerst bei ihm ein. Er bekommt einen Job in der Landschaftspflege, später in einer Autowerkstatt. Noch ist er drogenfrei. Ein Jahr später ist er rückfällig. Haschisch, Alkohol, harte Drogen, er ist wieder „fertig mit der Welt“. Er geht zurück nach Fleckenbühl. Nach der ersten Zeit kümmert er sich wieder um unsere neuen Bewohner. Später wird er Mitarbeiter im Fleckenbühler Kindergarten, die Kinder mögen ihn. Auch in der Gemeinschaft schätzt man seine hilfsbereite Art.
2004 wechselt er nach Leimbach in die Fleckenbühler Jugendhilfeeinrichtung. Er absolviert Fort- und Weiterbildungen, wird pädagogischer Gruppenleiter. Er gestaltet mit den Jugendlichen Waldwochen und Kanutouren, er begleitet sie beim Sport und hilft ihnen bei der Aufarbeitung ihrer Biografie. Die Arbeit empfindet er als „sehr sinnvoll“ und sie macht ihm Freude. In der kleinen Gemeinschaft der „Leimbacher“ kommt er gut zurecht.
Joggen, Fahrradfahren und Schwimmen sind bis heute seine großen Leidenschaften.
Einige Jahre später findet er über ein Dating-Portal eine Freundin. Sie wohnt in der Nähe von Köln, sie beginnen eine Fernbeziehung. Nach zwei Jahren entscheiden sie sich zu heiraten und es stellt sich die Frage, an welchem Ort sie zusammenleben wollen. Seine Freundin will ihr gewohntes Umfeld auf keinen Fall aufgeben, so dass Christopher sich nach 13 Jahren in der Gemeinschaft entscheidet, auszuziehen.
Er zieht zu ihr, arbeitet als Schulbegleiter und Gruppenleiter in einem Kinderhort.
Verheiratet sind sie noch nicht, als Christopher durch eine verschleppte Mittelohrentzündung ernsthaft erkrankt. Während des längeren Klinikaufenthaltes verändert sich seine Freundin und somit auch die Beziehung. Es kommt immer häufiger zu grundlosen heftigen Eifersuchtsszenen, Streit und Stress. Sie trennen sich, Christopher lebt weiterhin nüchtern.
Dann holt ihn seine Vergangenheit ein: Sein Bruder muss sich in England einer Straftat gegenüber dem Stiefvater verantworten, er hat versucht ihn umzubringen. Als der Stiefvater die Anschuldigung wegen Missbrauchs verneint, entscheidet sich Christopher, gegen ihn auszusagen. Sein Stiefvater bekommt eine dreijährige Freiheitsstrafe und stirbt während der Haft.
Christopher fällt nach der Verhandlung in ein „tiefes schwarzes Loch“ und wird rückfällig. „Ich saß in meiner wunderschönen Wohnung in einem abgedunkelten Schlafzimmer, nahm Drogen und trank.” Ein halbes Jahr dauert sein Rückfall, als er erkennt: „Sterben will ich nicht.”
„Fleckenbühl hat immer für mich funktioniert“,
sagt er. Er wird zum dritten Mal aufgenommen. Seitdem sind fast vier Jahre vergangen.
Ein Aufleben der Beziehung zu seiner damaligen Freundin in Köln war nicht von Dauer.
Christopher arbeitet im Bereich der Hauswirtschaft: Er managt interne und externe Veranstaltungen, kümmert sich um Möbellager und Spenden. Sein Büroarbeitsplatz ist im Geschehen der Hauswirtschaft, nahe der Wäscherei. Er leitet immer wieder neue Leute an.
Er ist verantwortlich für einige sportliche Aktivitäten, er geht regelmäßig mit neuen Bewohnern schwimmen.
Zu seiner eigenen Fitness gehört regelmäßiges Fahrradfahren und Schwimmen, gerne auch im See. Er ist eine Leseratte, liest englischsprachige Bücher und schaut gerne Filme. Er schreibt Texte und Gedichte und manchmal malt er. Seit einigen Wochen bewohnt er ein sehr schönes Zimmer für sich allein. „Das ist meine Oase“, sagt er.
In Fleckenbühl hat er die Naikan-Methode, eine einwöchige Meditation, bei der man sein Leben auf eine besondere Art betrachtet, kennengelernt.
Durch Naikan erkennt er, dass ihn die Wut und der Hass auf seinen leiblichen Vater nicht weiterbringen und er sucht die Versöhnung mit seiner Vergangenheit. Er nimmt mit seinem Vater nach 45 Jahren Kontakt auf. Bis heute ist das Verhältnis zwischen beiden, auch über die weite Entfernung hinweg, gut.
Gerne wäre Christopher zur Beerdigung seines Bruders gefahren. „Wir haben so vieles gemeinsam durchgestanden“, aber leider war das in diesen besonderen Zeiten nicht möglich.