Antony und Joost – Yin und Yang
Die Jugendhilfe Leimbach hat ein neues Leitungsteam. Zwei Männer, die wissen, worum es geht, wenn sie mit Jugendlichen über Kiffen, Basen und Saufen sprechen. Im April 2016 habe ich die beiden kennengelernt, zusammen sind wir in der Jugendhilfe „neu“ gestartet. Joost und Antony als Bewohner der Lebensgemeinschaft mit einer sehr intensiven und bewegten Vergangenheit und ich als Betriebswirtin mit null Erfahrung in Bezug auf Jugendhilfe und Sucht. Die beiden waren mir auf Anhieb sympathisch und auch nach all den Jahren lachen wir täglich und viel zusammen. Menschlich könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Antony sorgt für Struktur und Ordnung in der Einrichtung und Joost ist das Herz der Jugendhilfe Leimbach, beide haben immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Jugendlichen.
Antony sitzt vor mir mit seinen 32 Jahren und ich kann es nicht glauben, was er mir über sein Leben erzählt. Ich kenne ihn nur als sehr strukturieren, ordentlichen und pflichtbewussten Menschen mit einem großen Herzen. Als Hausleitung ist Antony für die Struktur und Organisation der Jugendhilfe verantwortlich. Er kümmert sich um die Belange der Bewohner und unterstützt das pädagogische Team. Jetzt versuche ich mir vorzustellen, wie er mit seinem Rottweiler am Bahnhof Heidelberg nach Amsterdam gereist ist, um seine kriminelle Karriere zu fördern – ehrlich gesagt – ich kann es mir nicht vorstellen. Jedoch merke ich, wie Antony während des Gesprächs sehr nachdenklich wird. „Da kommt jetzt schon ganz viel hoch, wenn ich so drüber rede”, sagt er und ich fühle, wie es ihn doch noch nach all den Jahren tief berührt.
Ulrike: Was für Drogen hast du konsumiert?
Antony: Also, seit meinem siebzehnten Lebensjahr lebe ich eigenständig, hatte meine eigene Wohnung und bin in der Partyszene mit Alkohol und diversen Drogen in Kontakt gekommen. Am Wochenende gefeiert und so, na ja, und dann habe ich irgendwann immer mehr gefeiert und bin immer tiefer rein. Als dann mein bester Freund Suizid begangen hat, bin ich richtig abgetaucht mit harten Drogen wegen des Schmerzes und der Trauer.
U: Du bist am 9. Januar 2014 im Haus Frankfurt aufgenommen worden. Wie kam dieser Sinneswandel?
(Antony der gerade noch etwas bedrückt und nachdenklich war, muss plötzlich laut lachen.)
A: Ja, wegen Joe Lewis
U: Wer ist Joe Lewis?
A: Dazu gibt es eine Geschichte (er lacht und seine Augen strahlen). Also, meine Mutter hatte plötzlich die Idee, als ich zehn Jahre alt war, in der Kirche in einem Gospel-Chor aktiv zu werden, im „Gospel Center Heidelberg“, und Klein Antony musste natürlich mit. Dort lernte ich Joe Lewis kennen. Joe Lewis erzählte mir während meiner Konsumzeit von seiner Drogenvergangenheit und dass er damals ein halbes Jahr auf Hof Fleckenbühl war, um den Entzug durchzuführen und den Sinn für sein Leben zu finden. Joe hatte über die Jahre meinen „Absturz“ wahrgenommen, was mit mir los war, da er die Symptome kennt. Joe ist seit über 20 Jahren clean und arbeitet unter anderem als Streetworker seines Vereins H.O.P.E. Ministry in Heidelberg. In langen Gesprächen hat er mich letzten Endes überzeugen können, den Schritt zu gehen. Ich habe gewusst, die Drogen sind ein Sumpf und es zieht dich immer weiter runter.
U: Und wie war die erste Zeit für dich im Haus Frankfurt?
Es war schon schwer, ich war sehr kritisch und angriffslustig, oft im Widerstand, ich musste erst mal Vertrauen fassen und meinem Leben einen neuen Sinn geben.
U: Wie muss ich mir die erste Zeit so vorstellen? Was hast du so gemacht?
A: Am Anfang bin ich die verschiedenen Bereiche durchlaufen und habe mich ausprobiert, geschaut, was mir so beruflich Spaß machen könnte, von der Hauswirtschaft über die Transporte bis hin zu Tätigkeiten in der Verwaltung. Ich stellte fest, dass die Tätigkeit als Sachbearbeiter im Bereich Zivil- und Strafrecht sowie Schuldenregulierung mich sehr interessierte. Um einen Start in ein neues Leben zu wagen, nahm ich die Chance wahr, die mir Fleckenbühl bot.
U: Was war deine erste Ausbildung?
A: Nach der Mittleren Reife habe ich eine Lehre zum Schreiner begonnen, aber ich wollte mein „altes“ Leben hinter mir lassen, neu anfangen. Letztendlich habe ich mich drei Jahre für die Landschaftspflege begeistern können.
U: Ich kann mich noch erinnern, wie du im 2016/2017 für ein Praktikum von acht Monaten in der Jugendhilfe warst. Wie war diese Zeit für dich?
A: Ja, das war eine sehr prägende und interessante Zeit, voller neuer Eindrücke. Jeder Jugendliche bringt seine eigene Geschichte mit und ist somit einzigartig. Einige Schicksale haben mich sehr berührt und bewegt, manchmal habe ich mich da auch selbst erkannt.
U: Welche beruflichen Erfahrungen konntest du noch bei Fleckenbühl sammeln?
A: Auf Hof Fleckenbühl war ich dann noch im Einkauf und für den Fuhrpark tätig. Dort habe ich gemerkt, dass mir die Entwicklung und Optimierung von Prozessen sehr viel Spaß macht und ich beruflich in diesen Bereichen tätig sein möchte. Juni 2019 habe ich meine externe Prüfung zum Kaufmann für Büromanagement bei der IHK abgelegt.
U: Und wie kam es zu der Entscheidung „Hausleitung in Leimbach“?
A: Hermann Schleicher (Geschäftsführer) hat mir diese Position angeboten, da die Stelle zu besetzen war. Im Dezember 2019 habe ich dann in Leimbach angefangen.
U: Warum?
A: Mein Tätigkeitsfeld ist sehr vielfältig und abwechslungsreich und auch hat mich die Herausforderung gelockt. Ich kannte bereits das Team in Leimbach und konnte mir eine Zusammenarbeit sehr gut vorstellen. Mir war wichtig, meiner Arbeit einen Sinn zu geben. Den Jugendlichen den Halt zu geben, der mir gefehlt hat.
U: Was ist dir wichtig?
A: Dass man in Leimbach so akzeptiert und angenommen wird, wie man ist, mit allen Stärken und Schwächen und jeder eine Chance für ein selbstbestimmtes Leben erhält.
U: Was sind deine Ziele für die Zukunft?
A: Die Jugendhilfe Leimbach mit weiterzuentwickeln und ein Teil vom Ganzen zu sein. Ein Studium der Sozialpädagogik sowie die Entwicklung einer Medienwerkstatt stehen auf meiner Prioritätenliste ganz weit oben.
Joost und Antony kommen mir vor wie Yin und Yang und gerade das macht die erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden aus. Obwohl sie so verschieden sind, haben sie doch ähnliche Erfahrungen, Lebensstrukturen und Visionen. Beide haben die Erfahrung gemacht, dass die Selbsthilfe sie gerettet hat und diese Erfahrung möchten sie an Jugendliche weitergeben.
Joost unterstützt seit September 2015 tatkräftig als Erzieher die Jugendhilfe Leimbach, seit 2020 ist er im pädagogischen Leitungsteam. Mit Herzblut und viel Geduld ist er 365 Tage für die Jugendlichen da. Da wir zusammen in einem Büro sitzen, bekomme ich täglich mit, dass er trotz all des Trubels, der hier oft in der Jugendhilfe mit 14 Jugendlichen herrscht, die Ruhe bewahrt. Auch wenn es manchmal in ihm brodelt, bleibt er stets sachlich, gerecht und wirkt gelassen. Neben der Tätigkeit als Bezugsbetreuer, ist er auch für die Kennenlerngespräche der Neuaufnahmen verantwortlich. Joost ist der Ansprechpartner für die Jugendämter und beteiligt an den Hilfeplangesprächen der Jugendlichen. Er ist durch seinen holländischen Akzent sofort Sympathieträger.
Den Halt und die Stabilität, die Joost den Jungs gibt, wird sehr deutlich in einer Zeichnung eines Jugendlichen.
Durch seine eigene Biografie hat er einen guten Zugang zu den Jugendlichen und kann ihnen die nötigen Grenzen setzen, die zu positiven Verhaltensveränderungen führen.
Ulrike: Und Joost wie war das bei dir? Wieso bist du als „Holländer“ in Leimbach?
Joost: (bei dieser Frage muss er erst mal lachen …) Ich habe schon sehr früh, im Kindesalter von 14 Jahren, Drogen ausprobiert und somit viel eigene Therapieerfahrung. Als ich 25 Jahre alt war, war mir bewusst, ich muss weg aus meiner Heimat, sonst schaff ich das nicht, von den Drogen loszukommen, daher bin ich zum Entzug nach Israel gegangen. Und wie das Leben so spielt, habe ich mich dort in eine Frau verliebt.
U: Und diese Frau kam aus Berlin?
J: Genau, mit ihr bin ich nach Berlin gegangen und habe kurz nach meiner Ankunft meine Ausbildung als Erzieher angefangen und absolviert.
U: Warum bist du Erzieher geworden?
J: Durch meine eigenen Erfahrungen. Ich will Jugendlichen helfen, an sich zu glauben, damit sie gerüstet sind für eine selbstbestimmte Zukunft. Ich liebe die Momente, wenn wir es schaffen, Jugendliche aufzubauen, ihnen Halt zu geben und eine Perspektive.
U: Wieso bist du nicht losgekommen von den Drogen?
J: Leider bin ich immer wieder rückfällig geworden. Ich merkte, wie mir mein Leben immer mehr entglitten ist und ich immer weiter in den Sog gekommen bin. Ich war im Substitutionsprogramm und das tägliche Gefangensein in der Abhängigkeit, das Doppelleben und ich hatte Angst wieder alles zu verlieren. Ich spürte „so will ich nicht leben, ich muss was ändern“.
U: Und warum Fleckenbühl?
J: Ich hatte gehört, dass Fleckenbühl sehr schnell und unkompliziert hilft. Da mir die Therapie bis dato keinen Langzeiterfolg gebracht hatte, dachte ich, probiere ich die Selbsthilfe.
U: Wie war dein Start in Fleckenbühl?
Am Anfang schwer, es war alles neu und so auf dem „Land“, im Gegensatz zu Berlin. Aber die Arbeit auf dem Hof hat mich schnell abgelenkt.
J: Am Anfang schwer, es war alles neu und so auf dem „Land“, im Gegensatz zu Berlin. Aber die Arbeit auf dem Hof hat mich schnell abgelenkt.
U: War dein Ziel sofort, in der Jugendhilfe zu arbeiten?
J: Nicht direkt, die ersten drei Monate war ich auf dem Hof. Dort habe ich in verschiedenen Bereichen wie Töpferei, Küche, Hauswirtschaft mitgearbeitet. Unser pädagogischer Leiter Bernhard Fielenbach hat mich im September angesprochen, ob ich nicht Lust hätte, in der Jugendhilfe tätig zu werden. Nach einem Praktikum wurde mir sofort klar, dass der „kleinere Rahmen“ in Leimbach und die ländliche Umgebung mir sehr guttun, somit bin ich hiergeblieben.
U: War das für dich als Stadtmensch und an Kultur Interessiertem nicht eine große Umstellung?
J: (lacht) Ja, das war und ist es immer noch. Aber von Leimbach ist man ja auch schnell mal in Marburg, um ins Theater usw. zu gehen.
U: Was ist für dich das Besondere, warum arbeitest du für die Fleckenbühler?
J: Für mich ist das Besondere die Art des Zusammenlebens in der Lebensgemeinschaft – in einer Großfamilie – dadurch wird eine Beziehung zu den Jugendlichen aufgebaut und ihnen eine „Art Zuhause mit Familie“ gegeben, dadurch erreichen wir die Jugendlichen. Hier darfst du sein wie du bist, du brauchst dich nicht zu verstecken oder eine Rolle zu spielen. Die Jugendlichen kennen unsere Lebensgeschichten, genauso wie wir ihre kennen, und das verbindet. Was für mich auch sehr wichtig ist, ist die Zusammenarbeit und der Halt im Team.
U: Was treibt dich an? Was gibt dir Kraft?
J: Die bewegende Geschichte der Jugendhilfe Leimbach. Wenn ich daran denke, dass wir als Modelleinrichtung gestartet sind und jetzt eine anerkannte Regeleinrichtung sind. Und dass auch der Weg der Selbsthilfe für einige Menschen der richtige Weg ist, um sich von seiner Sucht zu befreien. Wenn ich erlebe, wie gerade aktuell ein Jugendlicher uns mit Erfolg verlässt, mit Schulabschluss und Ausbildung zum Schreiner, motiviert mich das sehr.
Nach diesen Gesprächen gehe ich mit einem noch besseren Gefühl in den Feierabend. Bei Antony und Joost merkt man, dass ist nicht nur irgendein Beruf, den sie ausüben, nein, für die beiden ist es Berufung und ich freu mich jetzt schon auf die neuen Herausforderungen in Leimbach mit diesem großartigen Team der Jugendhilfe Leimbach.