Pierre wird im Sommer 1997 geboren. Zu seiner älteren Schwester hat er schon immer eine enge Beziehung. Kurz nach der Geburt seiner jüngeren Schwester lassen sich seine Eltern scheiden. Pierre bleibt zunächst bei seiner Mutter.
Pierre wächst in ländlicher Umgebung in Nordrhein-Westfalen auf und stellt sich als aufgeweckter aber auch äußerst reizbarer Junge heraus. Als seine Lebhaftigkeit und Aggressivität im Grundschulalter zunehmend problematisch werden, empfiehlt ihm der Kinderarzt Ritalin. Pierres leiblicher Vater lehnt die Behandlung ab.
Im Grundschulalter randaliert Pierre inzwischen rund um die Uhr und lässt sich kaum beruhigen. Mit zehn Jahren zieht er zu seinem Vater. Zu diesem Zeitpunkt macht er erste Erfahrungen mit dem Rauchen. Er klaut die Zigaretten aus der Handtasche seiner Mutter und will sie eigentlich nur auf dem Schulhof verkaufen. Etwas zu verkaufen, was man selbst nicht kennt, erscheint ihm allerdings nicht sehr professionell, so dass er beginnt, die Zigaretten auch selbst zu rauchen. Mit elf Jahren raucht er dann regelmäßig. Mit zwölf Jahren wird er durch Zufall von der Mutter auf dem Schulhof beim Alkoholtrinken mit Älteren erwischt. „Ein Viertel meines Lebens bestand aus Hausarrest. Das hat aber nichts gebracht.“ Die darauffolgenden zwei Jahre ist er fast jedes Wochenende betrunken, später auch unter der Woche.
Tabak und Alkohol reichen bald nicht mehr. Mit etwa 14 Jahren beginnt Pierre mit seinen Kumpels zu kiffen. „Das erste Mal war richtig schlimm“, erinnert er sich. „So schlimm, dass ich dachte, ich kiffe nie wieder, aber am nächsten Tag habe ich meine Freunde gefragt, ob sie mehr von dem Zeug haben.“ Nach kurzer Zeit kommen auch Partydrogen dazu. Als seine Eltern ihn einen Blut- und Urintest machen lassen und er neben Cannabis auch noch positiv auf Amphetamine getestet wird, bestreitet er das aufrichtig – er hat keine Ahnung, dass das, was er zu sich nimmt, so heißt.
Mutter und Vater bringen ihn schließlich zu einem Kinderpsychologen. Die wiederholten Warnungen der Erwachsenen, dass er noch suchtkrank und alkoholabhängig wird, wenn er so weitermacht, sind ihm „schnuppe“.
Um seinen Drogenkonsum zu finanzieren, bestiehlt er seine Eltern, Stiefeltern und Geschwister. Nun beginnt auch das Verhältnis zu seiner großen Schwester, die bisher immer Verständnis gezeigt hat, zu bröckeln. Am Familienleben nimmt er kaum noch teil, von Familienfesten wird er ausgeschlossen.
„Die hatten alle keinen Bock mehr auf mich, weil ich immer zugeballert war.”
Sein Vater und seine Mutter stehen jedoch immer zu ihm: „Sie haben ihr Bestes gegeben und alles versucht, um mich vor diesem ganzen Wahnsinn zu schützen.”
Trotz Exzessen und regelmäßiger Schulabwesenheit schafft Pierre den Realschulabschluss, sogar mit einem guten Notendurchschnitt, was er sich selbst nicht erklären kann. Seinem Vater täuscht er nun vor, dass er sich um eine Ausbildungsstelle kümmert. In Wirklichkeit verbringt er die Tage damit zu konsumieren.
Seine damalige Freundin bekommt anfänglich nichts von Pierres Drogenabhängigkeit mit. Als sie dann durch Pierres Eltern davon erfährt, überredet sie ihn kurz vor seinem 17. Geburtstag, sich in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie behandeln zu lassen. Hier verbringt er etwa zwei Monate. „Ich hab’ da allen erzählt, was sie hören wollten und mich dann mit Medikamenten zugedröhnt“, erinnert er sich heute zurück.
Nach dem Aufenthalt in der Klinik, besucht er eine Wirtschaftsfachschule, wo er sein Fachabitur machen möchte. Er schwänzt die Schule und konsumiert stattdessen vormittags chemische Drogen. Nachmittags raucht er Cannabis, um vom aufputschenden Effekt wieder runterzukommen. Pierres Vater ist verzweifelt und droht ihm mit dem Rauswurf, sobald Pierre volljährig wird. Er besorgt seinem Sohn eine Wohnung und zahlt die Miete dafür. Der Kontakt bricht aber sonst fast völlig ein. Pierre ist auf sich allein gestellt. Er beginnt zwei Ausbildungen, bricht diese aber ab. Sein Konsum-Rhythmus ist nicht mit den Arbeitszeiten vereinbar.
In dieser Zeit realisiert Pierre zum ersten Mal, dass sein Alltag nur noch aus Drogen und Alkohol besteht: Er isst nichts mehr und fällt ständig in Ohnmacht. Er ist sechs bis sieben Tage wach, schläft eine Nacht und macht dann weiter. Seine Freunde haben sich distanziert, seine Mutter hält ihn zum Schutz der anderen Kinder auf Abstand. Pierre denkt nun zum ersten Mal über Hilfe nach und erfährt durch seinen Vater von Fleckenbühl, ist aber noch weit davon entfernt, ernsthaft mit den Drogen Schluss zu machen.
Das Verhältnis zu seiner Schwester ist endgültig kaputt, als er zweimal ihre Hochzeit verpasst: Bei der standesamtlichen Trauung ist er mit dem Fahrrad unterwegs nach Holland, um Drogen zu beschaffen. Einen Tag vor der kirchlichen Trauung wird er wegen einer nicht beglichenen Geldstrafe verhaftet. „Viel weiter unten konnte ich nicht sein“, erzählt Pierre. Doch dann kommt es noch schlimmer.
Pierre beginnt Drogen zu verkaufen, gerät aber an die falschen Leute. Als er versucht, die Dealer übers Ohr zu hauen, bricht eine Gruppe von vier Männern mitten in Nacht in seine Wohnung ein und verprügelt ihn, während er schlafend in seinem Bett liegt. Er kommt mit einem kaputten Kiefer, einer gebrochenen Nase und Rippenprellungen davon. Erneut überkommt ihn der Gedanke, dass er vielleicht Hilfe braucht. Doch so weit ist er noch nicht.
Nach dieser Episode trifft er auf einen alten Bekannten. Gemeinsam koksen sie und verspielen ihr Geld in Spielotheken. Ihren kostspieligen Lebensstil finanzieren sie durch Diebstähle aller Art. Das Geld genügt aber nicht, um die Miete zu begleichen und um Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen. Als er nach einer Räumungsklage obdachlos wird, schaffen es seine alten Freunde, ihn zu überreden, nach Fleckenbühl zu gehen. Pierre sieht zwar ein, dass das eine gute Idee ist, möchte aber vorher noch seinen 20. Geburtstag ordentlich feiern, was er auch tut – eine ganze Woche lang. Am 15. Juli 2017 fahren ihn seine Kumpels nach Cölbe. Nach zwei Tagen kalten Entzugs im Aufnahmebereich der Fleckenbühler wird er offiziell in die Gemeinschaft aufgenommen.
Da das Haus Frankfurt zu diesem Zeitpunkt unterbesetzt ist, wechseln er und ein paar andere Personen nach 14 Tagen von Cölbe nach Frankfurt. Pierre kommt hier in die Haustechnik und beginnt fast sofort mit der Fortbildung zum Hausmeister. Er ist der allererste Teilnehmer des Fortbildungsgangs, der erst wenige Wochen zuvor zugelassen wurde. Mit seinem Ausbilder Matze versteht er sich sehr gut. Matze ist der erste Erwachsene, auf den er hört. Innerhalb der nächsten zwölf Monate absolviert Pierre mit Erfolg vier Module und macht seinen Führerschein. Nach Abschluss der Maßnahme zieht es ihn in die Aufnahme der Fleckenbühler: Er möchte neue Hilfesuchende bei ihrer Ankunft unterstützen. Hier bleibt er fast ein Jahr und realisiert zum ersten Mal, dass er ein echtes Suchtproblem hat: „Als ich hierherkam, wusste ich nicht, dass ich süchtig bin. Ich dachte, ich sei ein Spaßkonsument.”
Zwischenzeitlich entscheidet er sich, „zur Probe“ an der Qualifizierung zum Kaufmann für Büromanagement teilzunehmen. Inzwischen ist Pierre ein fester Mitarbeiter im Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit und hat fast die Hälfte seiner Ausbildungszeit hinter sich. Am 17. Juli 2020 feiert er seinen dritten Clean-Geburtstag. „Wäre ich nicht hier, säße ich heute im Knast“, davon ist Pierre überzeugt. Für die Zukunft wünscht er sich nur eins: Die Qualifizierung zum Kaufmann für Büromanagement abzuschließen, einen guten Job zu finden und weiterhin ein so gutes Verhältnis zu seiner Familie zu pflegen. Er erinnert sich gern an das Gefühl, das er bei seiner ersten Heimfahrt nach über einem Jahr hatte. Es hat lange gedauert, das Vertrauen seiner Familie zurückzugewinnen, das möchte er nicht wieder aufs Spiel setzen. Außerdem ist er stolz darauf, ein gutes Vorbild für seinen kleinen Bruder sein zu können – „endlich mal!“
Auch für die Mitglieder der Fleckenbühler Gemeinschaft ist Pierre ein Vorbild: Er engagiert sich zum Beispiel für die Umsetzung eines Trainingsraums, organisiert Aktivitäten und begleitet als Verantwortlicher neue Bewohner zum Fußballspielen. In seinem Arbeitsbereich plant er Gerichtsfahrten, vertritt andere Mitarbeiter und unterstützt bei der Akquise von Sachspenden. Wenn bei den Umzügen Not am Mann ist, springt er gerne mal ein.
Manchmal wünscht er sich, „wie ein normaler 23-Jähriger leben zu können“. Aber er weiß, dass er das jetzt noch nicht könnte. Um sich das immer wieder bewusst zu machen, hat er ein Foto von sich bei seiner Ankunft in die Gemeinschaft auf dem Handy gespeichert, das er sich regelmäßig ansieht. So möchte er nicht mehr sein. Er genießt den Schutz und die Zukunftsaussichten, die ihm die Fleckenbühler Gemeinschaft ermöglichen. Es fällt ihm nicht immer leicht, mit so vielen Menschen klarzukommen, erzählt er. Aber er weiß, dass es das Richtige für ihn ist.